Efeu - Die Kulturrundschau

Beständig, bescheiden und brillant

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24.03.2023. Nach vielen Wirren und Antisemitismus-Vorwürfen , die nicht zutrafen, dürfte Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel" am Münchner Metropoltheater eigentlich gezeigt werden, darf aber nicht - die NZZ ist bestürzt. Der tatsächliche Antisemit Roger Waters soll nur auftreten, ruft Ronen Steinke in der SZ. Bei Lana del Reys neuem Album "Did You Know That There's a Tunnel Under Ocean Blvd" wird Pitchfork ganz lyrisch. Navid Kermani spricht im Van Magazin über seine Liebe zu klassischer Musik und begründete schlechte Laune im WDR. Überall wird Daniel Sagers Relotius-Doku besprochen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.03.2023 finden Sie hier

Film



Korrektur vom 31. März: Gabi Uhl hat uns in einer Mail auf ein Missverständnis aufmerksam gemacht. Sie hat nicht den Spiegel, sondern Relotius frühzeitig auf Unstimmigkeiten hingewiesen. Wir haben das in der Presseschau nachträglich korrigiert. Pardon.

Überall wird heute die Relotius-Doku "Erfundene Wahrheit" über den schreibenden Fälscher Claas Relotius besprochen. Seine Chefs bezirzte er mit Geschichten, die buchstäblich zu schön waren, um wahr zu sein. Viele von ihnen wollten nicht mit dem Regisseur Daniel Sager sprechen, berichtet etwa Andrea Diener in der FAZ: "Stattdessen schaut sich die Dokumentation an den Schauplätzen der Reportagen um und stellt Relotius' Beschreibungen gegen Bilder vor Ort. In der Reportage 'Die letzte Zeugin' ist von Gräbern Hingerichteter die Rede, auf denen die Namen kaum noch zu lesen seien. Die Kamera fährt über Grabkreuze, darauf nur Nummern. Er war also wirklich nicht einmal dort."

Besonders schlecht steht in der Doku immer noch die Spiegel-Chefredaktion da, schreibt René Martens in Zeit online. Im Film tritt etwa Gabi Uhl von der "Initiative gegen Todesstrafe e.V." auf, die Relotius frühzeitig auf gravierende Ungereimtheiten über Relotius Reportage "Die letzte Zeugin" aufmerksam gemacht hatte. In der Reportage ging es um eine Frau,  die angeblich durch die USA reist, um bei Hinrichtungen zuzusehen: "Uhl, die selbst drei Hinrichtungen miterlebt hat, kommt zwar im Abschlussbericht der Spiegel-Aufklärungskommission vor (ohne dass ihr Name genannt wird), das Ausmaß ihres Zweifels wird darin aber nicht ersichtlich. Uhls Äußerungen werfen nicht nur kein gutes Licht auf die Redakteure der Dokumentationsabteilung, sondern auf alle Personen beim Spiegel, die 'Die letzte Zeugin' gelesen haben."

Ambros Waibel denkt in der taz anlässlich des Films eher noch mal über die Verhältnisse nach, die die Affäre offenlegte: "Auch an meinem kleinen Arbeitsplatz gab es 2018 aus der Führungsebene Zweifel am Vorgehen von Juan Moreno, ohne dessen Hartnäckigkeit Relotius heute eine Macht- und Vorbildfunktion im deutschen Journalismus inne hätte. Der Grund für diese Skepsis war schlicht: Die Leute, die dann - sehr sanfte - Konsequenzen aus der Affäre tragen mussten, waren auch Führungskräfte, und Relotius war ihr Traum eines Untergebenen, eine Art menschliche ChatGPT, die beständig, bescheiden und brillant lieferte, was sie - alles Männer by the way - sich unter großem Journalismus vorstellten." In der entscheidenden Frage aber, schreibt Andreas Scheiner in der NZZ, bringt uns der Film nicht weiter: "Wie war es möglich, dass das offensichtliche Zerrbild, das Relotius von der Realität zeichnete, nicht aufgefallen ist?"

Hier ein längerer Trailer des Films:



Robert Schwentkes "Seneca"-Film kann man am besten würdigen, wenn man ihn nicht ganz so ernst nimmt wie dieser sich selbst, meint Bert Rebhandl in der FAZ. Sonst "müsste man wahrscheinlich in Biografien nachschlagen, was Schwentke sich so angelesen hat, und bei diversen Gegenwartszeichen die Stirn runzeln vor Besorgnis darüber, dass die Welt jetzt schon seit bald zweitausend Jahren untergeht: Rom 'fiel' nicht, sondern 'it slipped away', sagt Schwentkes Erzähler, es entglitt (sich? uns?). 'Seneca' wird in die Filmgeschichte eingehen nicht als Menetekel, sondern als eine der besten Übungen in hohem Camp, die es seit Alejandro Jodorowsky oder Werner Herzog gab."

Jan-Philipp Kohlmann spricht im Tagesspiegel mit Girley Charlene Jazama, die in Lars Kraumes Film "Der vermessene Mensch" eine der Hauptrollen spielt. Der Film spielt bekanntlich vor dem Hintergrund der Genozide an den Herero und Nama. Kraume war vorgeworfen worden, eine "white savior"-Perspektive einzunehmen. Aber Jazama ist dafür eher dakbar: "Ich hätte ein Problem damit gehabt, wenn er aus der Perspektive der Opfer hätte erzählen wollen. Das wäre für mich kulturelle Aneignung. Es gibt großartiges Potenzial für Filme aus der anderen Perspektive, etwa über Jakob Morenga oder Samuel Maharero, die den Kampf gegen die Deutschen anführten. Aber das ist unsere Aufgabe als namibische Filmemacher:innen."
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Literatur

Clemens Setz steht mit seinem Roman "Monde vor der Landung" auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis, meldet unter anderem die taz: In der Belletristik-Kategorie konkurrieren außerdem Ulrike Draesner ("Die Verwandelten"), Joshua Groß ("Prana Extrem"), Dinçer Güçyeter ("Unser Deutschlandmärchen") und Angela Steidele ("Aufklärung. Ein Roman"). Zu den Sachbuchnominierten gehören Jan Philipp Reemtsma mit seiner Biografie über Christoph Martin Wieland und Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys Studie "Gekränkte Freiheit". Die ganze Liste hier und hier. "Der Preis der Leipziger Buchmesse wird am 27. April verliehen. Nachdem die Messe drei Jahre in Folge pandemiebedingt ausfallen musste, soll sie in diesem Jahr unbedingt stattfinden."

Au0erdem: Die SZ bespricht neue Kinderbücher. Besprochen wird im Tagesspiegel die Wieland-Biografie von  Jan Philipp Reemtsma.
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Bühne

Nach den Antisemitismus-Vorwürfen jüdischer Studentenverbände (Unsere Resümees) hatte Regisseur Jochen Schölch seine Inszenierung von Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel" am Münchner Metropoltheater stark überarbeitet, das wiederum untersagte nun die Agentur, die den libanesisch-kanadischen Autor weltweit vertritt. Jetzt wurde die Inszenierung endgültig aus dem Programm genommen, für Bernd Noack in der NZZ "ein weiteres Beispiel für das bedenkliche Ausmaß der Cancel-Culture". Dabei hatten zahlreiche prominente, auch jüdische Stimmen in Deutschland für die Wiederaufnahme plädiert: "Stefanie Schüler-Springorum, Historikerin und Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung ... fragte sich, was passieren würde, wenn man dem Protest nachgäbe. Theaterstücke, die sich mit dem Nahostkonflikt oder auch mit dem Holocaust befassen, dürften dann wohl nicht mehr in Deutschland aufgeführt werden. Tatsächlich finden die Kritiker, die mit ihrem Protest die offene Auseinandersetzung verhindern, dass die deutschen Zuschauer nicht in der Lage sind, mit der Komplexität der jüdischen und israelischen Geschichte angemessen umzugehen."

Vielleicht wird unter dem designierten Intendanten Christian Spuck, seit elf Jahren Intendant des Balletts Zürich, in der kommenden Spielzeit am krisengebeutelten Berliner Staatsballett ja doch noch alles gut, hofft Michaela Schlagenwerth, die Spuck für die Berliner Zeitung porträtiert hat. Im April wird er seine erste eigene Arbeit am Haus, die Verdi-Hommage "Messa da Requiem", vorstellen - ein gut abgehangenes Erfolgsstück, mit dem man wenig falsch machen kann, meint Schlagenwerth. Nur dass Marco Goeckes "Petruschka" trotz des Hundekot-Eklats im Spielplan geblieben ist, sei doch recht mutig: "Er ist vorsichtig, aber nicht feige. 'Ich verurteile die Tat. So etwas darf man nicht tun', sagt er. Aber er macht auch sehr entschieden klar, dass Goecke ein Freund sei, ein großer Künstler, und dass es nach einer angemessenen Zeit auch eine Goecke-Uraufführung in Berlin geben werde. Den Teamplayer nimmt man Spuck ab. Dass er über die Goecke-Premiere nicht über den Kopf der Compagnie entschieden hat, war auf alle Fälle strategisch klug."

Weiteres: Kinsun Chan wird neuer Ballettdirektor der Dresdner Semperoper, meldet die FAZ. Die SZ geht der Faszination für die Stücke von Yasmina Reza nach.
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Musik

Man muss es sagen: Pitchfork-Kritikerin Olivia Horn wird geradezu lyrisch bei Lana del Reys neuem Album "Did You Know That There's a Tunnel Under Ocean Blvd": "Aus dem Rohmaterial des Lebens einen Sinn zu formen, der es wert ist, bewahrt zu werden - das ist die Aufgabe des Schriftstellers. Eine, die Lana mit Nachdruck aufgreift, auch wenn diese Bedeutung manchmal nur für sie selbst lesbar ist. 'Did You Know That There's a Tunnel Under Ocean Blvd' kommt als ein weitläufiges, verwirrendes Werk daher. Es ist voll von leisem Nachgrübeln und lauten Unterbrechungen, von sichtbaren Nähten und ungesäumten Rändern, von der Chorprobe, die sich durch die ersten Momente zieht, bis zum Geräusch des Haltepedals des Klaviers, das am Ende losgelassen wird. Die Schönheit - Lanas Tugend und ihr Problem - verblasst oder gerät in Vergessenheit, wie der titelgebende Tunnel, dessen Mosaikdecken und bemalte Kacheln verschossen und verlassen sind. Hier ist Lana auf der Suche nach etwas Dauerhaftem, nach den Dingen 'im Herzen der Dinge': Familie, Liebe, Heilung, Kunst, Vermächtnis, Weisheit - und all den Widersprüchen und der Bestürzung, die mit diesem Streben einhergehen."

Hier das Titelstück:



Hartmut Welscher vom VAN Magazin spricht mit Navid Kermani  über seine späte Liebe zu klassischer Musik, die ihm natürlich auch vom Radio vermittelt wurde, etwa vom "Klassik Forum" auf WDR 3. Aber solche Formate sind auch im WDR immer weiter beschnitten worden, und im Haus herrscht eine tragische Atmosphäre: "Ich bin dort immer sehr oft ein- und ausgegangen und kenne keinen schlechter gelaunten Betrieb. Mir kommt es so vor, als würde über die Jahre die Stimmung dort schlechter und schlechter - aber klar, ich habe beziehungsweise hatte natürlich auch vorwiegend im Kulturfunk zu tun. So viele Leute haben dort das Gefühl, sie werden behindert, sie müssen mit idiotischen, sowohl kunstfeindlichen als auch praxisfernen Anweisungen umgehen und werden von dem abgehalten, was sie gerne machen würden und eigentlich auch besser könnten."

Arcana gab es bei der Berliner "Maerzmusik" zu hören, oder, äh, gerade nicht zu hören, berichtet Clemens Haustein in der FAZ: "Das soziologische Experiment, wie sich ein Publikum auf das Ende eines Stückes verständigt, gehört ebenso dazu wie eine Musik, die ihre Aura nicht zuletzt aus dem Geheimnisvollen bezieht. Ein dicht bedrucktes Papier sieht man auf dem Tisch vor der Bühne liegen. Die Frau vor dem Mikrofon berichtet, dass all das während der Aufführung rezitiert worden sei, unhörbar. Was steht denn auf dem Papier? Sie wisse nicht, ob es im Sinne des Komponisten sei, das zu verraten."

Ein Antisemit wie Roger Waters lässt sich nicht mit der Absage von Konzerten bekämpfen, ist sich Ronen Steinke in der SZ sicher: "Die Stadt München hat deshalb in dieser Woche bereits eingesehen, dass sie an einem Roger-Waters-Konzert im Mai nicht vorbeikommt. Die Stadt Frankfurt am Main hält bislang noch an ihrer ablehnenden Haltung fest. Sie hat gerade Waters' Vertrag mit der Frankfurter Festhalle gekündigt, weil er Antisemitismus schüre. Aber will sie sich denn nun von Waters verklagen lassen, mit großer Aussicht auf Erfolg? Damit der sich als verfolgte Unschuld inszenieren kann?" Anders wäre es, wenn man Waters Volksverhetzung vorwerfen könnte, so Steinke.

Und hier noch ein bisschen tröstlicher Lärm von Linkin Park, deren "blockbuster sophomore album 'Meteora'" (so Stereogum) gerade zwanzig Jahre alt wird.



Außerdem: Ueli Bernays spricht in der NZZ mit Herbert Grönemeyer über sein neues Album "Das ist los". Ebenfalls in der NZZ stellt Matthias Niederberger die Schweizer Band Zeal & Ardor vor. Und in der taz schreibt Juliane Streich ein kleines Porträt der Leipziger Musikerin Karo Lynn, die gerade mit ihren neuen deutschen Popsongs auf Tour geht. Besprochen wird außerdem das neue Album von Depeche Mode (SZ).
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Kunst

Daniel Boyd: Rainbow Serpent. Bild: Gropius-Bau.




Die Vorfahren des australischen Künstlers Daniel Boyd stammen aus der Südsee oder waren Aborigines. Mit "Rainbow Serpent (Version)" widmet der Berliner Gropius Bau dem Maler nun die erste große Soloschau in Europa. Im Hintergrund von Boyds Bildern steht die Philosophie von Edouard Glissant, klärt uns Jens Hinrichsen im Tagesspiegel auf: "Glissant argumentierte, dass Imperialismus und Kolonialismus der ganzen Welt westliche Vorstellungen von Transparenz aufgezwungen haben, was für kolonisierte Menschen jedoch bedeutete, kategorisiert und nach Vorurteilen bewertet zu werden."  Erkennbar wird Boyds Auseinandersetzung damit für Hinrichsen etwa in einem Gemälde, das auf einer Fotografie seiner Schwester, die sich für einen Tanz zurechtmacht, basiert: "Das Bild erinnert an die 'Gestohlene Generationen', die Kinder, die durch die australische Regierung (seit dem 19. Jahrhundert und bis in die 1970er hinein) gewaltsam von ihren Familien getrennt wurden. Untergebracht in Pflegefamilien oder Missionsstationen wurde ihnen der Kontakt mit kulturellen Praxen der First Nations untersagt. Die Pointe des Bildes: Boyds Schwester wird den ihren Leuten aufgezwungenen Tanz weiter tanzen. Ein Akt, der gängige Vorstellungen von kulturellem Erbe und Autorschaft aushebelt - und Wiederaneignung als Form des Widerstands präsentiert."

Cameron Row: Bug Trap. Bild: Courtesy of Cameron Row.

Mit nur neun Exponaten will der amerikanische Konzeptkünstler Cameron Row in seiner Ausstellung 'Amt 45i' im Frankfurter MMK Tower die deutschen Kolonialverbrechen zeigen und "weißdeutschen Rassismus" abräumen, Claus Leggewie glaubt in der taz indes nicht, dass die Schuldfrage so leicht zu beantworten ist: "Sicher gibt es die Abwehrkämpfe weißer Suprematisten und sie werden aggressiver, aber es braucht an einem musealen Nebenschauplatz globaler Kämpfe gegen Diskriminierung keine Sippenhaft hellhäutiger Nachgeborener, sondern deren so einsichtige wie effektive Solidarität mit Unterdrückten und Ausgebeuteten in aller Welt. Zu den Unterdrückern und Ausbeutern zählen heute postkoloniale Autokraten und Oligarchen, was man nicht als billige Ablenkung abtun darf. Konsequent betrachtet wie in diesem White Room sind auch sie späte Nutznießer der Sklaverei. Unter diesen Kautelen ist die Ausstellung sehenswert."

Weiteres: Die FAZ entdeckt im Palais Musée Luxembourg den "Frère De l'artiste Et Collectionner" Léon Monet. "What Is It Like To Be A Bat"fragt sich die taz in der Kunsthalle Mainz 
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