Efeu - Die Kulturrundschau

Von kafkaesker Prägnanz

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18.02.2022. Zweiter Tag der Berlinale-Bilanz: Die taz hätte sich noch mehr Pandemie im Film gewünscht. Am besten so beiläufig eingeflochten wie in Hong Sang-soos "The Novelist's Film", meint der Tagesspiegel, der allerdings noch mehr Freude am Nebenwettbewerb "Encounters" hatte. "Zu weiß" ist die Leipziger Shortlist dieses Jahr nicht geraten, freut sich ebenfalls der Tagesspiegel. Und die Konzernverlage spielen auch keine Rolle, frohlockt Intellectures. Der Standard schaut in Wien bewegt zu, wenn Tracey Emin Abtreibung und Fehlgeburten mit Munch verarbeitet. Und bei VAN erinnert die Sinologin Barbara Mittler: "Frère Jacques" war mal Chinas Nationalhymne.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.02.2022 finden Sie hier

Film

Die Kunst, das Leben - alles beiläufig: Hong Sang-soos "The Novelist's Film"

Die Bären wurden zwar gestern schon erlegt und verteilt (unser Resümee), doch bis zum Sonntag geht die Berlinale noch weiter - mit Vorführungen für das Publikum und Nachlesen in den Feuilletons. Tazler Tim Caspar Boehme braucht keinen zweiten Präsenzjahrgang unter Pandemie-Erschwernissen: Die Rahmenbedingungen und Schutzmaßnahmen verliehen dem Festival "etwas notgedrungen Wattiertes und Steriles, eine Berlinale auf Abstand. Bei den Filmen dieses Wettbewerbs hielten die meisten Regisseure ebenso Abstand zur Pandemie, gaben in ihren Geschichten von diesem Aspekt der Gegenwart nichts zu erkennen. Mit zwei Ausnahmen: Die französische Filmemacherin Claire Denis, die zum ersten Mal für einen Goldenen Bären angetreten war, und ihr südkoreanischer Kollege Hong Sang-soo ließen als einzige ihre Hauptdarsteller mit Masken vor der Kamera auftreten."

Hong Sang-soo erhielt für seinen Film den Großen Preis der Jury. Das Kino des Koreaners kreist um eine überschaubare Zahl an Motiven und Figurenkonstellationen - meist sind es Figuren, die mit Kunst zu tun haben, in schwierigen Beziehungen stecken und sich irgendwann betrinken, schreibt Till Kadritzke im Tagesspiegel. So "kreisen in 'The Novelist's Film' die Gespräche des Figurenensembles immer wieder um das Verhältnis von Kunst und Leben, und reflektieren damit auch Hongs Kino selbst. ... Auch die Pandemie bekommt Hong ganz mühelos in sein Kino eingeflochten. Der Moment, wenn sich zwei Figuren wiedererkennen, erfährt durch den Mund-Nasenschutz einen spannende Verzögerung. Und das verlegene Zurechtrücken der Maske ist für das Porträtieren sozialer Unbeholfenheit ein echtes Geschenk. Auch dieses Mal wird man erst gegen Ende allmählich gewahr, was da vor dem eigenen Auge ganz beiläufig entstanden ist."

Wenn er einem in die Augen blickt, ist das Kino ganz bei sich: Godard in "Á Vendredi Robinson"

Christiane Peitz resümiert im Tagesspiegel den Nebenwettbewerb "Encounters". Dort hatte sie ihre helle Freude an Mitra Farahanis von "feinem Humor" durchzogenem Porträtfilm "Á vendredi Robinson", für den sich die beiden hochbetagten Filmemacher Jean-Luc Godard und Ebrahim Golestan E-Mails schreiben - und zwar jede Woche am Freitag. "Ob er noch an das Kino glaubt, fragt Golestan ihn. Godard entschuldigt sich, das sei ein bisschen eine Polizeiverhörfrage. Er trägt keine Sonnenbrille in dieser Robinsonade. Als er am Ende am Küchentisch sitzt und seinen Rotwein mit Wasser verdünnt, schaut er direkt in die Kamera. Ein milder, freundlicher, ein wenig verlegener Blick. Godard schaut einem direkt in die Augen. Und das Kino ist ganz bei sich."

Der Wettbewerb war zwar insgesamt durchwachsen, meint FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, doch die Jury hat die Stärken herausgeholt. Und es zeige sich ein neues Alleinstellungsmerkmal: "Anders als in Cannes und Venedig spielen weibliche Filmschaffende hier keine Nebenrollen. Sie spielen die Hauptrollen und setzen Maßstäbe." Das "war sicherlich nicht die glanzvollste Berlinale", resümiert Soja Zekri in der SZ, aber "wenn man bedenkt, dass die Berlinale im Pandemie-Tief begann, aber pünktlich zur Preisverleihung eine 'Fastnormalität' in Aussicht gestellt wurde, dann wird man sich an diese Festspiele vielleicht eines Tages erinnern als die Berlinale, die der Anfang vom Ende der Einschränkungen war."

Mehr vom Festival: Carolin Ströbele freut sich auf ZeitOnline für die deutsche TV-Komikerin Meltem Kaptan, die ihre für ihre Rolle als Murat Kurnaz' Mutter in Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" (unser Resümee) mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde: Kaptan "war ein Lichtblick in den düsteren Familienkonstellationen, die dieser Wettbewerb sonst hervorgebracht hat". Für den Standard porträtiert Dominik Kamalzadeh die österreichische Filmemacherin Kurdwin Ayub, die mit ihrem Film "Sonne" für den besten Debütfilm des Festivals ausgezeichnet wurde. Andreas Scheiner freut sich in der NZZ über den starken Schweizer Auftritt auf dem Festival.

Aus dem Festivalprogramm besprochen werden Cem Kayas Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod" über die Popmusik der türkischen Gastarbeiter (Tsp, mehr dazu hier) und Ran Tals Dokumentarfilm "1341 Frames of Love and War" über den Kriegsfotografen Micha Bar-Am (Tsp).

Abseits der Berlinale: Im Tagesanzeiger porträtiert Matthias Lerf Udo Kier, der als ewiger Nebendarsteller mit "Swang Song" endlich einmal eine Hauptrolle bekommen hat. In ihrem 54books-Essay über "And Just Like That..." zeigt sich Isabella Caldart sehr enttäuscht über das "Sex and the City"-Revival. Besprochen werden Steven Soderberghs Thriller "Kimi" (SZ), Robert Guédiguians "Gloria Mundi" (Standard), Tobias Wiemanns "Der Pfad" (FAZ), Uwe Bolls "Hanau" (ZeitOnline) und die auf Sky gezeigte Serie "The Fear Index" (FAZ).
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Literatur

Welche Gesellschaft soll das abbilden, fragten sich Teile der literarischen Öffentlichkeit im vergangenen Jahr nach Bekanntgabe der Shortlists für den Leipziger Buchpreis, die zu weiß geraten sei. Nun liegt die aktuelle Shortlist vor. "Ob die Jury sich bei ihrer Auswahl und ihren Lektüren die Kritik zu Herzen genommen hat", fragt sich Gerrit Bartels im Tagesspiegel. "Zumindest in der Belletristik hat es den Anschein, als habe man hier betont auf Vielfalt Wert gelegt." So kam etwa "Emine Sevgi Özdamar zu einer Nominierung mit ihrem Lebenswerk 'Ein von Schatten umgrenzter Raum', einem literarischen Kunstwerk ganz eigenen Ranges. ... Eine interessante, auch überraschende Liste ist das allemal, mit Özdamar als offensichtlicher Favoritin." Thomas Hummitzsch staunt auf Intellectures: Es "sticht ins Auge, dass die Konzernverlage, die mit all ihrer Marktmacht die Frühjahrsmesse in die Knie gezwungen haben, kaum eine Rolle spielen." Auch ansonsten lasse diese Shortlist "aufhorchen". In unserem Online-Buchladen Eichendorff21 haben wir für Sie einen Büchertisch mit allen nominierten Titeln zusammengestellt.

Außerdem: In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Schriftstellerin Amy Tan zum 70. Geburtstag. Besprochen werden unter anderem Thomas Sparrs "Hotel Budapest, Berlin" (taz), Dirk Kempers Biografie über Friedrich Joseph Haass (NZZ) und Thomas von Steinaeckers "Ende offen" (SZ).
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Kunst

Götz Valien, "Paris Bar" (Variante 3), 1993-2010, Acryl auf Baumwolle, 211 x 381 cm - korrigierte Version von "Paris Bar" (Variante 1), 1992; Copyright: Götz Valien. Foto: Reinhard Görner

Für einen der "spannendsten Kunststreitfälle" der jüngsten Zeit hält Nicola Kuhn im Tagesspiegel den Urheberrechtsstreit um Martin Kippenbergers "Paris Bar"-Bilder: Kippenberger hatte zwei Gemälde in den Neunzigern bei einer Agentur für Kinoplakate in Auftrag gegeben, der Maler Götz Valien, der die Gemälde damals anfertigte, stellt aktuell eine dritte Version im Haus am Lützowplatz aus. Dort trafen nun die gegnerischen Anwälte aufeinander, schreibt Kuhn: Valiens Anwalt "Peter Raue erklärte, für Konzeptkunst gäbe es beim Urheberrecht eine Lücke, die Idee sei kein geschütztes Gut. Friederike von Brühl hielt dagegen, Valien habe bis auf geringe Abweichungen präzise nach der Vorlage gemalt, sei mithin nur 'Gehilfe', dem keine Urheberrechte zustehen. Ansonsten besäßen auch Architekten an ihren Bauten kein geistiges Eigentum, sondern müssten es sich mit den Maurern, Dachdeckern und Elektrikern teilen."

Bild: Marlene Dumas: Nuclear Family, 2013. Fondation Beyeler, Riehen/Basel. © Peter Cox, Eindhoven. © Marlene Dumas. 

"Willkommen im Club der Seelen", jauchzt Katharina Rustler im Standard nach dem Besuch der Ausstellung "Im Dialog" in der Wiener Albertina, die Arbeiten von sieben KünstlerInnen zeigt, die vom Werk Edvard Munchs geprägt sind. Alle eint das "Herausstülpen des Innersten, die schier explodierenden Emotionen", erkennt Rustler, etwa in Tracey Emins Videoarbeit "Homage to Edward Munch and All My Dead Children": "Der Schrei ist so schmerzhaft, so voller Leid und Traumata, dass man selbst brüllen möchte. Auf einem einsamen Steg kauert der nackte Körper einer Frau in Embryonalhaltung. Die Meereswellen rauschen, die Sonnenstrahlen blinzeln in die Kamera. Dann gellt der Schrei eine Minute lang durch Mark und Bein. Es wird wieder still. In der Videoarbeit … von 1998 liegt die britische Künstlerin Tracey Emin selbst auf dem Anlegesteg im norwegischen Åsgårdstrand. Es ist jene Landschaft, die der große Maler Edvard Munch als Kulisse für viele seiner Schlüsselwerke nutzte. Emin bezieht sich ganz direkt auf die düsteren und leidvollen Welten, die Munch in Ikonen wie Der Schrei erschuf, und verknüpft sie mit eigenen Erinnerungen an Abtreibung und Fehlgeburt und interpretiert Munch so neu. Ihr Schrei dringt wie ein Klagelied direkt unter die Haut."

Außerdem: Im taz-Gespräch mit Falk Schreiber erklärt Brigitte Kölle, Leiterin der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle, welche Neuzugänge sie sich für die Sammlung wünschen würde. In der FR spricht Sandra Danicke mit dem portugiesischen Künstler Carlos Bunga über seine Installation "I Always Tried to Imagine My Home" in der Rotunde der Schirn Kunsthalle. In der Berliner Zeitung freut sich Ingeborg Ruthe, dass Max Beckmanns Gemälde "Badende mit grüner Kabine und Schiffern mit roten Hosen" für 2.305.000 Euro vom Kunstmuseum Den Haag ersteigert wurde. In der FAZ gratuliert Freddy Langner dem Fotografen Duane Michals zum Neunzigsten.

Besprochen werden die große Georgie O'Keeffe-Ausstellung in der Baseler Fondation Beyeler, die laut Bernhard Schulz in der Welt anhand von selten gezeigten Werken mit vielen Klischees aufräumt, außerdem die BBC-Doku "Survivors: Portraits of the Holocaust", die zeigt, wie Künstlerinnen und Künstler siebe Holocaust-Überlebende porträtierten (SZ), die Ausstellung "Anita Suhr - verfolgt, gebrochen und dennoch Kunst" der die NS-verfolgte Widerständlerin und Malerin im Hamburger Forum Alstertal (taz) und die Mary Warburg Ausstellung "Auf Augenblicke frei und glücklich", die derzeit im Hamburger Ernst-Barlach-Haus zu sehen ist (FAZ).
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Bühne

Erstmals erscheint nun Paul Bowles' Theaterstück "The Garden" in Buchform, freut sich David Signer in das NZZ. Das 1967 entstandene Theaterstück von Bowles, der im marokkanischen Tanger lebte, handelt von einem Mann, der Allah verleugnet und von seinem Dorf gesteinigt wird. Das Stück ist eine "Parabel über islamischen Extremismus, und zwar ein von kafkaesker Prägnanz und Lakonie", schreibt Signer: "Die meisten Werke Bowles, die in Marokko spielen, zeichnen ein abgründiges Bild der arabischen Gesellschaft. Man hat ihm deshalb gelegentlich Orientalismus, Exotismus oder Islamophobie vorgeworfen. Aber seine in den USA angesiedelten Erzählungen sind genauso verstörend. Er hat einfach die Gabe, wie ein genialer Ethnologe die Bruchstellen und Risse einer Kultur zu erfassen."

Weiteres: In die "tiefsten Abgründe bestialischen Verhaltens" blickt Nachtkritiker Reinhard Kriechbaum, wenn Susi Weber Franzobels Roman "Das Floß der Medusa" am Schauspielhaus Salzburg in eine Gemäldegalerie verlegt. Besprochen werden außerdem Lizzy Timmers Stück "Musik - Etappen einer Skandalgeschichte" am Theaterhaus Jena, der ganz "furios" einhundert Jahre musikalische Entwicklung in zwei Stunden auf die Bühne bringt, wie Kevin Hanschke in der FAZ versichert, und Elena Tschernischovas Wiener Fassung der "Giselle" an der Wiener Staatsoper (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Hartmut Welscher spricht für VAN mit der Sinologin Barbara Mittler über die erstaunliche Rezeptionsgeschichte der klassischen Musik in China. Dort gilt diese längst als eingemeindet und keineswegs mehr als Import, erfahren wir. "Frère Jacques" etwa ist ein echter Evergreen und war vor 100 Jahren sogar einmal für eine kurze Zeit die Nationalhymne. Es wurde "von allen politischen Gruppen mit unterschiedlichen Texten genutzt wurde, sei es um den Kommunismus zu stärken oder die Warlords niederzuschlagen. Wenn Sie heute einem Chinesen die Melodie von 'Frère Jacques' vorsingen, ist der ganz erstaunt, dass Sie als Europäer diese Melodie kennen, weil es als chinesisches Volkslied gilt. Die Musikerziehung in der Schule umfasste dann auch nicht nur chinesische, sondern europäische Instrumente. Im Prinzip kann man sagen, dass mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts europäische Instrumente in China völlig naturalisiert und europäische Melodien Teil des chinesischen Melodienschatzes geworden waren."

Weitere Artikel: "Eine ganz neue psychedelische Musik" ist auf Jon Hopkins' aktuellem Album "Music for Psychedelic Therapy" zu hören, schreibt Andrian Kreye, der sich für die SZ mit dem Musiker über halluzinogene Drogen unterhalten hat. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Iris ter Schiphorst und dort über Henriëtte Bosmans. Olivia Giovetti führt in VAN durch Klassikmix der Woche. Außerdem sammelt und rankt Olivia Giovetti für VAN "alle 35 olympischen Eiskunstlaufperformances zu Musik aus Bizets 'Carmen'". Auf ihrer Top10 befindet sich auch Elene Gedevanishvilis Einzelkür von 2010: Wenn sie am Ende "in einem Moment des Triumphs die Faust empor reckt, mit stählernem Blick voll Hunger auf mehr, ist sie einfach Carmen."



Besprochen werden das neue Album von Madrugada (FAZ), der von Wolfgang Fuhrmann und Claus-Steffen Mahnkopf herausgegebene Band "Perspektiven der Musikphilosophie" (FAZ) und das neue Album von Black Country, New Road (tazlerin Stephanie Grimm berichtet von einer "soghaften und doch geschmeidigen Klangreise").
Archiv: Musik